Vitamin-D-Präparate werden überschätzt
Präparate mit Vitamin D sollen helfen, gesund zu altern. Jetzt zeigt eine gross angelegte Studie: Sie bringen weniger als erhofft.
Erstmals erschienen in der NZZ am Sonntag am 14. November 2020.
Weniger Krebs, weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weniger Knochenbrüche - das sind nur einige der Hoffnungen an Vitamin-D-Präparate. Doch immer mehr Studien der letzten Jahre konnten diese Erwartungen nicht bestätigen.
Ein weiterer Dämpfer kommt nun von einer grossen, EU-finanzierten Studie: Vitamin-D-Supplemente brachten nicht die erwarteten Vorteile etwa in Bezug auf Knochenbrüche, Beinfunktion oder das generelle Infektionsrisiko.
Die qualitativ hochwertige «Do-Health»-Studie («Jama») stand unter der Leitung von Heike Bischoff-Ferrari, Direktorin der Klinik für Geriatrie des Universitätsspitals Zürich. Die Altersmedizinerin und ihr Team untersuchten, wie sich die tägliche Einnahme von 2000 Internationalen Einheiten Vitamin D3, eines Gramms Omega-3-Fettsäuren und ein einfaches Krafttraining allein oder in Kombination auf Menschen über 70 auswirkte.
Rund die Hälfte der 2157 Studienteilnehmer, die aus fünf europäischen Ländern stammten, hatte einen Vitamin-D-Mangel. Aufwendig erfassten die beteiligten Forscher über drei Jahre Daten wie den Gesundheitszustand, Blutwerte und Ernährung der Probanden.
Doch weder Vitamin D, noch Omega-3 oder Sport führten dazu, dass die Probanden weniger Knochenbrüche oder eine bessere Bein- und Gedächtnisfunktion hatten als jene in der Kontrollgruppe.
Kleine Effekte in Untergruppen
«Wir hatten mehr Knochenbrüche in der Kontrollgruppe erwartet», sagt Studienleiterin Bischoff-Ferrari. Doch sie gibt zu bedenken: «Etwa vier von fünf Teilnehmern waren moderat bis intensiv sportlich aktiv, und fast jeder zweite hatte keine Grunderkrankung.»
Es könne sein, dass vornehmlich die gesunden und fitten Senioren sich an der Studie beteiligt hätten und dass dies die Resultate beeinflusse. Weitere Analysen etwa zu Krebsrisiko, Herz-Kreislauf-Ereignissen und Gesundheitskosten folgten noch, so Bischoff-Ferrari.
Allerdings stellten die Forscher positive Effekte in bestimmten Untergruppen fest. So senkte Vitamin D das Infektionsrisiko bei den 70- bis 74-Jährigen um 16 Prozent. Omega-3 senkte das Risiko für Infekte der oberen Atemwege und der Harnwege um 10 beziehungsweise 62 Prozent. Diese Resultate würden durch bereits bestehende Studien bestätigt, sagt Bischoff-Ferrari. Zudem senkte Vitamin D den systolischen Blutdruck bei Männern.
Die Effekte seien vergleichsweise klein und, da sie nur bei der Analyse bestimmter Untergruppen auftauchten, nicht sehr überzeugend, sagt Thomas Rosemann, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Zürich. Er verweist auf Studien der vergangenen Jahre. Darunter etwa eine von 2019 aus den USA, die in Partnerschaft mit der «Do-Health»-Untersuchung lief.
Sie zeigte, dass die Einnahme von Vitamin D und Omega-3-Präparaten bei über 50-Jährigen weder das Krebsrisiko noch jenes für Herz-Kreislauf-Erkrankungen senkte. Eine Übersichtsstudie aus dem Jahr 2018 ergab, dass eine Supplementierung mit Vitamin D nicht mit einer Reduktion von Knochenbrüchen bei Gesunden einherging.
Zwei weitere Übersichtsstudien von 2017 und 2018 kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Zwar gibt es auch an diesen Studien Kritikpunkte, etwa, dass die Teilnehmer nicht wirklich unter Vitamin-D-Mangel litten, doch zeichnet sich ein deutliches Bild ab. «Es gibt keinen Beleg für die Sinnhaftigkeit einer Einnahme von Vitamin-D-Präparaten», sagt Rosemann.
Martina Heim, die Leiterin der Akutgeriatrie am Kantonsspital Graubünden, sieht es ähnlich. Die Resultate der aktuellen Studie schlössen zwar nicht aus, dass ältere Leute, die weniger gut zuwege seien als die Probanden, von Vitamin-D-Präparaten profitierten. «Aber wenn Vitamin D einen durchschlagenden Effekt hätte, hätte man dies in der Studie gesehen», sagt Heim.
Dennoch empfiehlt das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen allen über 60 Jahren die Einnahme von Vitamin-D-Supplementen als Nahrungsergänzung. Laut einer Studie des Bundesamtes für Gesundheit von 2012 sind 60 Prozent der Bevölkerung hierzulande im Winter unterversorgt. Denn nur etwa 10 bis 20 Prozent des Bedarfs können wir über die Nahrung aufnehmen, den Rest stellt der Körper selber her, und dazu braucht er Sonnenlicht.
Kosten von 60 Millionen Franken
Allerdings gibt Martina Heim zu bedenken: «Wir wissen gar nicht so genau, was ein gesunder Vitamin-D-Spiegel ist.» Je nach Land gebe es dazu unterschiedliche Werte. Sicher sei, dass die Vitamin-D-Reserven, die unser Körper in Fettgewebe speichert, über den Winter abnähmen, und dass wir durch unseren modernen Lebensstil im Winter weniger Vitamin D herstellten. «Aber ob diese Tatsache auch relevant ist für unsere Gesundheit, das wissen wir nicht», so Heim. Kosten von 60 Millionen Franken
Thomas Rosemann findet die offiziellen Empfehlungen zur Einnahme von Vitamin D bei Älteren nicht gerechtfertigt. Vielmehr führten diese zu weiteren Problemen: «Wir haben immer mehr Patienten, die mit dem expliziten Wunsch in die Praxis kommen, ihren Vitamin-D-Spiegel messen zu lassen.» Diese Messungen seien medizinisch nicht angezeigt, verursachten aber Kosten von 60 Millionen Franken pro Jahr, so Rosemann.
Die Hoffnung ans Vitamin D mögen zwar mit der neuesten Studie stark gedämpft sein. Doch die eigentliche Arbeit beginne erst jetzt, sagt Heike Bischoff-Ferrari. Dank den Blutproben der Probanden verfüge die Forschung nun über eine grosse Biobank. Die Erbgutdaten daraus will die Altersforscherin in Zukunft analysieren, um zu sehen, wie sich die Einnahme von Supplementen, Sport und Ernährung auf den Alterungsprozess auf Ebene der DNA auswirken.