Virologin: «Eine Herdenimmunität wird es so nicht geben»

Untersuchungen zeigen: Antikörper im Blut von Infizierten können innerhalb von drei Monaten wieder verschwinden. Was bedeutet das für den Erfolg einer Impfung? Alexandra Trkola, Virologin und Leiterin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich, im Interview.

Erstmals erscheinen in der NZZ am Sonntag am 18. Juli 2020.

 

Eine Studie aus Grossbritannien zeigt, dass die Antikörper, die sich im Blut von Infizierten bilden, nach drei Monaten wieder verschwunden sein können. Was bedeutet das?

Dass die Antikörper wieder verschwinden könnten, war zu befürchten. Denn Sars-CoV-2 ist in vielem sehr ähnlich wie andere Erkältungs-Coronaviren. Mit diesen werden wir auch immer wieder konfrontiert und infiziert. Das bedeutet, dass die Grundimmunität, die sich ausgebildet hat, keinen absoluten Schutz vor einer Neuinfektion bildet.

Können wir also gar nicht immun werden?

Die Situation «Ich habe es gehabt, und jetzt bin ich immun, jetzt kann ich mich wieder ohne Vorsichtsmassnahmen bewegen» wird es so nicht für jeden geben. Nach einer Infektion bildet sich aber schon ein Schutz aus. Zwar nicht vor einer erneuten Infektion. Aber wahrscheinlich sinkt das Risiko, nochmals schwer an Sars-CoV-2 zu erkranken. Man kriegt den Husten, aber milder als beim ersten Mal.

Wie soll das gehen ohne Antikörper?

Die Produktion der Antikörper wird zwar eingestellt, aber das Immunsystem bewahrt sogenannte B-Gedächtniszellen auf. Diese werden bei einer neuen Infektion reaktiviert und stellen wieder die gleichen erregerspezifischen Antikörper her wie zuvor. Es dauert dann nicht Wochen, bis man eine schützende Immunantwort aufgebaut hat, sondern nur wenige Tage. Also selbst wenn die Antikörper, die man schon einmal gebildet hat, im Blut nicht mehr nachweisbar sind, fängt man bei einer Zweitinfektion nicht wieder bei null an.

In der britischen Studie verschwanden die Antikörper vor allem bei Personen, die keine Symptome hatten. Woran liegt das?

Wie viele Antikörper gebildet werden, hängt meist davon ab, wie viel Virus das Immunsystem gesehen hat und wie lange. Vereinfacht kann man sagen: Wenn das Virus nur kurz da ist, dann hört der Körper wieder auf, die Antikörper zu produzieren. Denn das Signal, dass da etwas Gefährliches, Fremdes ist, hält nicht lange genug an. Das ist eigentlich ein kluger Mechanismus. Denn sonst müsste unser Körper ständig, permanent für alle Eventualitäten Antikörper produzieren, auch wenn diese nicht gebraucht werden.

Bedeutet das auch, dass bei Sars-CoV-2 die Idee von der Herdenimmunität gescheitert ist?

Die Herdenimmunität wird es so nicht geben, wie wir es uns wünschen. Am liebsten hätten wir so etwas wie bei Masern - einmal geimpft oder gehabt und das ganze Leben 100 Prozent geschützt. Das ist aber nicht bei allen Viren so. Doch auch die Immunität, die sich bei Sars-CoV-2 zeigt, kann im Hinblick auf die gesamte Bevölkerung hilfreich sein. Wenn sie bewirkt, dass man bei einer Zweitinfektion nur kurze Zeit infiziert ist, dann kann man das Virus auch nur über kurze Zeit weitergeben. Wenn die Gedächtniszellen schnell wieder neue Antikörper herstellen, produziert man nicht so viel Virus, kann auch nicht so viel Virus durch Hustentröpfchen verbreiten und so weiter. Ausserdem bilden sich bei einer Immunantwort auch andere Schutzmechanismen. Durch diese können, zum Beispiel, infizierte Zellen schnell erkannt und eliminiert werden, und dies kann helfen, eine zweite Infektion zu mildern.

Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Entwicklung eines Impfstoffes?

Der Impfstoff will zwar in Bezug auf Antikörper genau das wiederholen, was die natürliche Infektion auch hervorruft. Ein Impfstoff soll aber eine bessere Immunantwort auslösen als eine natürliche Infektion. Man muss ihn so gestalten, dass es eine langanhaltende Immunität gibt. Ein Beispiel ist die Zeckenimpfung, die gegen den Erreger der Frühsommer-Meningoenzephalitis schützt. Da muss man sich dreimal hintereinander impfen lassen und die Impfung nach fünf Jahren wieder auffrischen, damit dauerhafter Schutz garantiert ist.

Woher weiss man, nach welchem Impfplan man bei Sars-CoV-2 impfen müsste?

Dazu muss man wissen, wie viele Antikörper im Blut für einen effektiven Schutz nötig sind. Diesen Schwellenwert zu definieren, ist die absolute Crux. Für Sars-CoV-2 kennen wir ihn einfach nicht. Das kann man nicht jetzt, vorab aus der Beobachtung von Infizierten, erfahren. Das werden wir erst dann wissen, wenn es die Impfstoffe gibt und wir sehen, ob Geimpfte weniger häufig infiziert werden. Dazu müssen wir Zehntausende Probanden impfen, auf eine natürliche Infektion warten und überprüfen, ab welchem Antikörperschwellenwert es Impfschutz gibt. Solche Analysen brauchen extrem viel Zeit.

Diese Woche meldete die US-Firma Moderna vielversprechende Resultate einer klinischen Studie mit ihrem Impfstoff. Experten sagen, einen Impfstoff könne es schon vor Ende des Jahres geben.

Der Moderna-Impfstoff beruht auf einer ganz tollen Methode, und die Firma hat natürlich eine sehr gute Ausgangslage. Denn es bilden sich tatsächlich Antikörper, das zeigt diese neue Studie. Die Frage ist, ob sich auch eine langfristige Immunität ausbildet. Die Untersuchungen laufen erst seit einigen Wochen, da muss man schauen, wie es nach etwa vier Monaten aussieht. Es gibt bis jetzt keinen Impfstoff auf dem Markt, der auf dieser Methode basiert.

Wie lange dauert es, bis der Impfstoff so eingestellt ist, dass er langfristig Schutz bietet?

Das kann mehrere Jahre dauern. Denn will man etwa wissen, ob eine Impfung fünf Jahre Schutz gibt, muss man diese auch abwarten.

Wie kann man sicherstellen, dass der Immunschutz andauert?

Das ist eben die Kunst der Impfstoffentwicklung: Durch die Variation der Zusammensetzung, die Zugabe von Hilfsstoffen, die Kombination mit anderen Vakzinen und die Impfung in Serie versucht man, die Immunantwort zu verstärken. Das Ziel ist es, den Impfschutz auf mindestens zwei Jahre hochzuschrauben, manchmal gelingt auch nur ein Jahr. Wahrscheinlich wird man bei Sars-CoV-2 - ähnlich wie bei der Grippe - vorerst regelmässig impfen müssen.