Der Vordenker des ersten Corona-Impfstoffs

Ab Januar sollen Menschen in der Schweiz eine Corona-Impfung erhalten. Sie beruht auf einer neuen Methode, die der Immunologe Steve Pascolo von der Universität Zürich mitentwickelt und im Selbstversuch getestet hat.

Erstmals erschienen in der NZZ am Sonntag am 8. August 2020.

 
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Dieser Mann ist von seiner Forschung gezeichnet: Steve Pascolo sitzt im Schatten eines Baumes nahe der Mensaterrasse der Universität Zürich und krempelt seine dunkelblaue Jeans hoch. An der Innenseite seiner Waden sind mehrere helle Stellen zu sehen. Es sind die Narben eines Selbstversuchs, bei dem der Immunologe vor ungefähr 15 Jahren den Vorläufer eines Impfstoffs erprobt hat, der nun zu einer der grössten Hoffnungen im Kampf gegen das Corona-Virus geworden ist.

Impfstoffe, die auf Pascolos Verfahren beruhen, werden derzeit in klinischen Studien an Zehntausenden Menschen untersucht. Noch vor Ende dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres könnten erste Impfdosen zur Verfügung stehen. Beispielsweise von einem amerikanisch-deutschen Gemeinschaftsprojekt der Firmen Pfizer und Biontech oder von der US-Firma Moderna, deren Impfstoff sich die Schweiz diese Woche gesichert hat.

Es handelt sich dabei um mRNA-Impfstoffe, mit denen sich Pascolo bereits bei seinem Selbstversuch beschäftigt hat. Heute sind sie die Überraschungskandidaten im weltweiten Wettrennen um eine Corona-Impfung. Denn bis jetzt gibt es noch keinen zugelassenen Impfstoff, der auf dieser Technologie beruht.

Viele gängige Vakzine enthalten ungefährliche Viruseiweisse. Mit ihnen konfrontiert, produziert das menschliche Immunsystem Antikörper, die den Eindringling bekämpfen. mRNA-Impfstoffe dagegen enthalten nicht Eiweisse, sondern nur deren Bauplan – die mRNA. Das steht für Messenger-RNA, also einen Botenstoff, der die Erbgutinformation dorthin überträgt, wo sie in Eiweisse übersetzt wird.

In grossen Mengen

Es sind also die Körperzellen der Geimpften, die selbst Vireneiweisse herstellen, auf die anschliessend ihr Immunsystem reagiert. Der Vorteil: mRNA lässt sich sehr schnell in grossen Mengen herstellen. Bei Steve Pascolos Selbstversuch vor 15 Jahren hat das funktioniert. Die Narben stammen von einer Biopsie. In dem entnommenen Gewebe fand man Eiweisse, die sein Körper aus der unter die Haut gespritzten mRNA hergestellt hatte.

Pascolo war einer der Ersten, die Ende der 1990er Jahre begannen, mRNA-Impfstoffe zu erforschen. Der 1970 geborene Franzose erinnert sich, wie seine Faszination mit dem Thema begann: «Ich war ungefähr 13 Jahre alt und habe in den Nachrichten gesehen, dass man an Impfstoffen gegen Krebs forscht», sagt Pascolo. «Da hat es in meinem Hirn Klick gemacht, das wollte ich machen.»

Dass eine solche Krebsimpfung auf mRNA beruhen könnte, wurde ihm einige Jahre später klar: Nachdem er am Institut Pasteur in Paris promoviert hatte, ging er 1998 an die Universität Tübingen in Deutschland. Dort machte er zusammen mit seinen Forscherkollegen Ingmar Hoerr und Florian von der Mülbe eine Entdeckung: Normalerweise ist mRNA instabil und wird ausserhalb von Zellen sehr schnell abgebaut. Die Forscher erkannten, dass das Molekül dennoch stabil genug war, um als Impfstoff zu funktionieren. 1999 gründeten sie die Firma Curevac, die weltweit lange Zeit die einzige war, die mRNA-Impfstoffe erforschte.

Im Jahr 2008 publizierten Pascolo und seine Kollegen die Ergebnisse einer ersten klinischen Studie, in der sie ein mRNA-Vakzin gegen Hautkrebs einsetzten. Die Idee dahinter: Die mRNA enthält den Bauplan für ein Eiweiss, das nur in der Krebszelle vorkommt oder darin besonders reichlich vorhanden ist. Dieses Eiweiss stellt der Körper nach einer Impfung her und aktiviert so Zellen des Immunsystems, zum Beispiel zytotoxische T-Zellen sowie Helfer-T-Zellen. Und diese Zellen attackieren den Krebs.

Die ersten Ergebnisse zeigten, dass eine solche Impfung im Prinzip funktioniert, aber auch, dass Krebszellen sich nicht so einfach austricksen lassen. Dennoch: Mittlerweile forschen weltweit mehrere Firmen an mRNA-Impfstoffen gegen Krebs.

Doch die grössten Früchte ihrer Arbeit ernten Pascolo und seine Mitstreiter nun bei der Corona-Impfung. «Es ist lustig», sagt Pascolo, «wir haben 20 Jahre lang vorwiegend Forschung gemacht für eine Krebsimpfung, und nun hat sich wegen eines Virus innerhalb eines Jahres alles beschleunigt.» Bei Curevac investierte der deutsche Staat im Juni dieses Jahres 300 Millionen Euro und hält nun 23 Prozent der Anteile. Die Firma testet ihren mRNA-Impfstoff gegen Sars-CoV-2 derzeit in klinischen Studien in Deutschland und in Belgien.

Tage im Büro

Allerdings ohne Steve Pascolos Beteiligung. Seinen Posten im Unternehmen als Chief Scientific Officer gab er 2006 auf und ging in die Schweiz, wo er derzeit als Privatdozent an der Dermatologischen Klinik des Zürcher Universitätsspitals USZ und an der Universität Zürich arbeitet. «Damals habe ich jeden Tag im Büro verbracht, habe Anträge geschrieben, mich um Verwaltung und Planung gekümmert», sagt Pascolo. «Ich wollte wieder in die Forschung, ins Labor.» Denn dort fühlt er sich wohl. Schon als Kind, so erzählt er, habe er mit Reagenzgläsern und Pipetten gespielt, die ihm seine Schwester, die Biologie studierte, mitgebracht hatte.

«Ausser Forschung mache ich nicht viel», sagt er, nur ein bisschen Fitness und Schwimmen im Zürichsee. «Ich reise auf Kongresse und besuche alle paar Monate meine Eltern in Frankreich, sonst mache ich keine Ferien.» Gut, dass sein Partner – ein Neurologe – die Ferien ebenfalls anscheinend unbekümmert sausen lässt. Die beiden gehen am Wochenende oft wandern, am liebsten im Emmental. «Hier in der Schweiz habe ich alles, was ich brauche, da muss ich nicht irgendwohin in die Ferien fahren.» Pascolo isst kein Fleisch, und wenn er die Wahl hat zwischen Wasser und Wein, dann bevorzuge er «das hier», sagt er und schüttelt eine grüne Flasche Sprudel.

Das mag sich asketisch anhören, doch der Wissenschafter wirkt wie jemand, der sich selbst und seine Bedürfnisse gut kennt. Der Ruhm und das Geld, die ihm eine Karriere bei Curevac vielleicht eingebracht hätten, scheinen ihm egal zu sein. Denn damit sei auch Verantwortung verbunden. Man müsse Kontakte pflegen, Financiers überzeugen, «ein Politiker sein». Er selbst aber sieht sich als Innovator – er wird auf 26 Patenten genannt -, und er fühle sich wohl in der Rolle des Forschers.

Momentan bastelt Pascolo an einer neuen Erfindung: Er forscht an einem mRNA-Wirkstoff, der sich im Körper selbst vervielfältigt. Man würde etwa 100-mal weniger Ausgangsmaterial für einen Impfstoff brauchen. Das ist wichtig, weil es möglicherweise nicht genug Ausgangsmaterial gibt, um mRNA für Milliarden Menschen herzustellen. Ausserdem untersucht er, wie sich mRNA für die Gentherapie von Krankheiten, etwa von Krebs oder Hauterkrankungen, einsetzen lässt. Bei dieser Form der Therapie werden Zellen mithilfe der injizierten mRNA verändert, so dass sie Proteine herstellen, die die Zielkrankheit heilen können.

Doch wer soll die Impfstoffe in Zukunft produzieren? Haben Pharmaunternehmen wirklich genügend Anreize, um mRNA auch für weniger verbreitete Leiden herzustellen? Nötig sei eine Produktionsanlage, die den Wirkstoff nach international akzeptierten Standards produzieren kann. Solch eine Anlage wünscht sich Pascolo für die Schweiz. Dann könnte das Land bei einer zukünftigen Pandemie schnell reagieren und einen eigenen Impfstoff herstellen.

Therapie für seltene Krankheiten

Den Investitionsbedarf schätzt Pascolo auf etwa 5 Millionen Franken, die vom Staat aufgebracht werden müssten. Denn nur die Allgemeinheit könne leisten, was die Industrie nicht kann, weil es sich finanziell nicht lohne: Wirkstoffe herstellen, die bei sehr seltenen Krankheiten helfen. «In der Schweiz haben wir viele Biotech-Firmen, und die sind gut und wichtig», sagt Pascolo. «Aber wir brauchen auch eine unabhängige Institution in der Schweiz, die sagt: Ich will nur diesem einen Menschen helfen.»

Pascolo ist überzeugt, mRNA lässt sich für verschiedene Impfungen und Gentherapien nutzen: «Für jede Krankheit gibt es die Möglichkeit, sie mit mRNA zu behandeln.» Dennoch gibt es bis jetzt keine mRNA-basierte Therapie, die für die Behandlung von Patienten zugelassen ist. Ist der Forscher nicht zu sehr auf einen Lösungsansatz fokussiert und zu optimistisch? «Wenn er nicht Optimist wäre», sagt Pascolos Kollege und Leiter der Dermatologie am USZ, Thomas Kündig, «dann wäre er nicht Wissenschafter geworden.» Er schätze an Pascolo, dass er seit sehr langer Zeit eine Idee konsequent verfolge. Und nun habe ihm die Zeit recht gegeben. Früher seien mRNA-Firmen belächelt worden, doch Pascolo sei von der Technologie überzeugt gewesen. «Er ist ein Mann der ersten Stunde», sagt Kündig. «Er ist seit 20 Jahren der Mr. mRNA.»