ADHS: Risikofaktor Immunsystem
Eine Autoimmunerkrankung der Mutter kann das Risiko erhöhen, dass ihr Kind an Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung leidet.
Erstmals erschienen in der NZZ am Sonntag am 28. Februar 2021
Sie können sich schwer konzentrieren, zappeln, wenn sie in der Schule stillsitzen sollten, und reagieren oft impulsiv. Kinder mit ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, haben einen schwierigen Alltag. Weltweit ist etwa eines von zwanzig Kindern betroffen. Es gibt zwar Therapien, um ihnen zu helfen. Aber über die Ursachen ist nicht viel bekannt.
Fest steht, dass es sehr viele Faktoren gibt, die aber jeweils nur einen kleinen Teil zur Entstehung des Syndroms beitragen. Ein internationales Gremium aus ADHS-Experten hat vor kurzem eine Konsenserklärung veröffentlicht, in der sich insgesamt 37 Aussagen zu den Ursachen von ADHS finden. Jede einzelne von ihnen beruht auf aussagekräftigen Übersichtsstudien.
Neben genetischen Faktoren – sie bedingen 60 bis 70 Prozent der ADHS-Fälle – beeinflussen auch Umweltbedingungen das ADHS-Risiko. Es erhöht sich beispielsweise, wenn die Mutter während der Schwangerschaft raucht, übergewichtig ist oder einem Trauma ausgesetzt ist, etwa dem Verlust eines geliebten Menschen.
Typ-1-Diabetes und Schuppenflechte
Zudem mehren sich die Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen kindlichem ADHS und einer Autoimmunerkrankung der Mutter. Dies zeigt auch eine gross angelegte Studie mit über 60000 Kindern, die zwischen 2000 und 2010 im australischen New South Wales geboren wurden («Jama Pediatrics»). 12610 Kinder von Müttern mit Autoimmunerkrankung wurden verglichen mit 50440 Kindern von gesunden Müttern. Die australischen Forschenden analysierten, welche Sprösslinge nach dem dritten Lebensjahr ADHS entwickelten, wobei eine Behandlung mit Medikamenten oder eine Spitaldiagnose ausschlaggebend war.
Das Resultat: Autoimmunerkrankungen erhöhten das Risiko für ADHS, besonders ausgeprägt war der Zusammenhang, wenn die Mutter an Typ-1-Diabetes, Schuppenflechte, rheumatischem Fieber oder rheumatischer Karditis litt. Bei solchen Erkrankungen richtet sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper: Sogenannte Autoantikörper erkennen statt fremde Eiweisse diejenigen des Körpers.
Dass Autoimmunerkrankungen Auswirkungen auf die psychische Entwicklung von Kindern haben können, ist eine Ansicht, die sich unter Forschern in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr durchgesetzt hat. «Die Studie passt ins Bild», sagt der Psychiater Ludger Tebartz van Elst, der am Universitätsklinikum Freiburg unter anderem ADHS-Patienten betreut.
Autoimmunerkrankungen in der Familie oder bei der Mutter stehen nicht nur mit einem erhöhten Risiko für ADHS in Verbindung, sondern auch mit anderen Entwicklungsstörungen, etwa mit Autismus oder dem Tourette-Syndrom. Auch psychische Leiden wie Psychosen, Depressionen oder Schizophrenie können teilweise auf Autoimmunreaktionen und milde Entzündungen im Gehirn zurückgeführt werden.
Bei einem Teil der Schizophrenie-Patienten zum Beispiel scheinen Autoantikörper für die Krankheit verantwortlich zu sein. Dabei erkennen diese die sogenannten NMDA-Rezeptoren auf den Nervenzellen und beeinflussen diese so, dass die Informationsverarbeitung im Gehirn gestört ist. «Früher wurden die Symptome dieser Krankheit oft als Schizophrenie fehlgedeutet», sagt Tebartz van Elst, der solche Patienten therapiert. Er behandelt sie zum Beispiel mit Kortison oder anderen Immuntherapien, wodurch die psychischen Symptome oft verschwinden.
Wie genau Autoimmunerkrankungen bei Müttern das ADHS-Risiko ihrer Kinder erhöhen, ist aber noch unklar. «Es gibt verschiedene Theorien», sagt der Hauptautor der australischen Studie, Timothy Nielsen. «Möglicherweise spielen Autoantikörper und Zytokine der Mutter eine Rolle.» Zytokine sind Botenstoffe, die im Rahmen von Immunreaktionen gebildet werden. Sie können über die Plazenta ins fötale Blut gelangen und könnten dort die Hirnentwicklung des Fötus beeinflussen. Möglicherweise hängen Autoimmunerkrankung der Mutter und ADHS des Kindes aber auch über gemeinsame Gene zusammen.
Vermehrt psychische Leiden
Der Zusammenhang zwischen Autoimmunerkrankung und ADHS könne auch von anderen Faktoren abhängen, meint Susanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Zürich. Es könne entscheidend sein, wie die Autoimmunerkrankung behandelt wurde. In der Studie hatten die Autoren zudem festgestellt, dass Frauen mit Autoimmunerkrankungen vermehrt psychische Leiden aufwiesen. «Autoimmunerkrankungen spielen sicher eine Rolle, sind aber nur einer von vielen Faktoren, die die Entstehung von ADHS beeinflussen», sagt Walitza. An der Behandlung von Kindern mit ADHS im Alltag ändere die Studie nichts.
«Schwangere mit Autoimmunerkrankungen sollten engmaschig kontrolliert werden und die Behandlung gegebenenfalls angepasst werden», sagt Walitza. Aber Sorgen sollten diese Frauen sich nicht machen. Eine Autoimmunerkrankung wie Typ-1-Diabetes könne zwar das Risiko, dass der Nachwuchs ADHS entwickelt, erhöhen, so Walitza. Dasselbe gilt aber auch zum Beispiel für Übergewicht. Tebartz van Elst sieht das ähnlich. «Das Risiko geht unter im Rauschen der Lebensrisiken», so der Psychiater. «Auf keinen Fall sollten Frauen ihren Kinderwunsch davon abhängig machen, ob sie eine Autoimmunerkrankung haben oder nicht.»